Ein Kurz-Interview mit Dr. Susann Kroworsch, das verdeutlicht, welche Lebensbereiche in NRW noch inklusiver werden müssen. | KSL.NRW Direkt zum Inhalt

Ein Kurz-Interview mit Dr. Susann Kroworsch, das verdeutlicht, welche Lebensbereiche in NRW noch inklusiver werden müssen.

Ein Foto von Dr. Susann Kroworsch vor hellblauen und dunkelblauen Kacheln der KSL/Darauf steht Fensterblick Extern

Fensterblick NRW

„Die Empfehlungen für die einzelnen Lebensbereiche der UN-BRK müssen als Grundlage für die zukünftige Inklusionspolitik in NRW eingeordnet werden. (…) Dazu zählen beispielsweise das im aktuellen Koalitionsvertrag angekündigte Maßnahmenpaket zur Förderung von Inklusion und Diversität im Gesundheitswesen oder der ebenso dort in Aussicht gestellte Aktionsplan Inklusion im Bildungsbereich sowie die vorgesehene Stärkung von kommunalen Beteiligungsgremien von Menschen mit Behinderungen. Den dringenden Appellen des UN-Ausschusses müssen nun wirksame Maßnahmen folgen!“

von Dr. Susann Kroworsch / Interview / KSL vernetzt

Wibke Roth: Das Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) jährt sich im März 2024 für Deutschland zum 15. Mal. Außerdem fand Ende August 2023 die zweite Prüfung der Umsetzung der UN-BRK in Deutschland vor dem UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Genf statt. Zu welchem Ergebnis ist der Ausschuss gekommen?

Dr. Susann Kroworsch: Menschen mit Behinderungen sind noch immer kein selbstverständlicher Teil einer inklusiven Gesellschaft, sondern werden häufig in Sonderstrukturen verwiesen. Deswegen lag es nur auf der Hand, dass der Ausschuss vor allem massive Kritik an Deutschlands stark ausgebautem, menschenrechtswidrigem System von Sondereinrichtungen geübt hat, etwa bei der schulischen Bildung, der Beschäftigung in Werkstätten oder auch beim Leben in großen Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderungen. Zwar wird in Politik und Gesellschaft viel über Inklusion diskutiert, es fehlt jedoch an konsequenter Umsetzung und einem echten Strukturwandel.

Auch das Prinzip der Selbstbestimmung wird in Deutschland nicht ausreichend geachtet: Menschen mit Behinderungen müssen selbst über sich und ihr Leben entscheiden können. Ihre Autonomie wird aber von vornherein eingeschränkt, wenn sie auf Sondereinrichtungen verwiesen werden oder fehlende Barrierefreiheit den Zugang zu gesellschaftlichen Bereichen verschließt. Besonders stark ist die Selbstbestimmung bei Zwang in Form von unfreiwilliger Behandlung oder Unterbringung sowie freiheitsentziehenden Maßnahmen. Trotz gesetzlicher Nachschärfungen und der modellhaften Erprobung alternativer Ansätze sind unfreiwillige Behandlungen und Unterbringungen sowie freiheitsentziehende Maßnahmen auf Grundlage von Spezialgesetzen nach wie vor möglich.

Wibke Roth: Welche Empfehlungen und Forderungen hat der UN-Ausschuss Deutschland mit auf den Weg gegeben? 

Dr. Susann Kroworsch: Der UN-Ausschuss drängt vor allem zu einem notwendigen Systemwechsel. Er fordert zielgerichtete politische Maßnahmen, damit Menschen mit Behinderungen selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können, unter anderem durch Strategien zur Deinstitutionalisierung, also des Abbaus stationärer Wohnformen zugunsten ambulanter Unterstützungsangebote.

Darüber hinaus bedarf es deutlich strengere gesetzliche Vorgaben zur Umsetzung von Barrierefreiheit im gesamten privaten Sektor, etwa im Wohnungsbau oder im Gesundheitssektor. Außerdem muss die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen in allen Bereichen geachtet und Maßnahmen zu Zwangsvermeidung und Gewaltschutz in psychiatrischen Einrichtungen und Einrichtungen der Eingliederungshilfe dringend verstärkt werden.

Die neuen „Abschließenden Bemerkungen“ des UN-Ausschusses, die Ergebnisse der Staatenprüfung, sind eine klare Richtschnur für die weitere Umsetzung der UN-BRK in Deutschland. Bund, Länder und Kommunen sind aufgerufen, sich der Umsetzungsaufträge in ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereichen anzunehmen.

Wibke Roth: Was leitet sich daraus für NRW ab? 

Dr. Susann Kroworsch: Die Empfehlungen für die einzelnen Lebensbereiche müssen als Grundlage für die zukünftige Inklusionspolitik eingeordnet werden. Dazu zählen beispielsweise das im aktuellen Koalitionsvertrag angekündigte Maßnahmenpaket zur Förderung von Inklusion und Diversität im Gesundheitswesen oder der ebenso dort in Aussicht gestellte Aktionsplan Inklusion im Bildungsbereich sowie die vorgesehene Stärkung von kommunalen Beteiligungsgremien von Menschen mit Behinderungen. Unter enger Einbindung von Menschen mit Behinderungen – also „nichts über uns, ohne uns“ als zentraler Leitsatz der Behindertenbewegung und der UN-BRK – müssen diese Vorhaben strategisch in die Umsetzung gebracht werden. Politik, Wissenschaft und relevante zivilgesellschaftliche Akteursgruppen sind angehalten, mit den Empfehlungen des UN-Ausschusses zu arbeiten, sie bekannt zu machen und zu diskutieren.

Die Monitoring-Stelle wird im Rahmen ihres Mandats in NRW darauf hinwirken, dass die Handlungsempfehlungen aus Genf diskutiert und beachtet werden. Dazu wird sie weiter in Gremien aktiv sein und sich mit politischen Akteuren austauschen. Gern unterstützt sie dabei, die „Abschließenden Bemerkungen“ bei allen zuständigen Stellen in Politik und Verwaltung bekannter zu machen.

Den dringenden Appellen des UN-Ausschusses müssen nun wirksame Maßnahmen folgen!

Wibke Roth: Vielen Dank für das Interview, Frau Dr. Kroworsch.

Ausführliche Informationen, einschließlich der „Abschließenden Bemerkungen“, finden Sie hier:


März 2024