Eine Einordnung, warum es die Überprüfung des Behindertengleichstellungsgesetzes gibt, was es bislang bewirkt hat, und was in der Praxis noch fehlt | KSL.NRW Direkt zum Inhalt
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„Die Ergebnisse der Evaluation machen deutlich, dass zwar die gesetzlichen Möglichkeiten zur Herstellung von Barrierefreiheit immer bekannter werden, es jedoch noch großen Handlungsbedarf in der praktischen Umsetzung gibt.“

von Karoline Rischer / Einordnung / KSL vernetzt


Als Juristin sehe ich Gesetze als zentrales Element um Benachteiligungen zu beseitigen und allen Menschen eine selbstbestimme Lebensführung zu ermöglichen. Jedoch müssen Gesetze auch konsequent in der Praxis umgesetzt werden, da sie sonst nur gut gedachte Worte bleiben, ohne den gewollten Beitrag zur Gleichberechtigung zu leisten.

Auch der Gesetzgeber hat erkannt, dass es wichtig ist, Gesetze nach gewisser Zeit im Hinblick auf ihre Umsetzung in der Praxis zu überprüfen. Diese Überprüfung – auch Evaluation – genannt, wird daher bereits bei der Gesetzgebung vorgesehen. Bei der Novellierung des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) im Jahr 2016 wurde daher beschlossen, dass die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag in einem Zeitraum von sechs Jahren über die Wirkungen des BGG berichtet.

Einordnung

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat daher im Jahr 2021 das ISG Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik GmbH in Kooperation mit der Universität Kassel, das Hugo Sinzheimer Institut für Arbeits- und Sozialrecht (HSI) der Hans-Böckler-Stiftung, sowie das SOKO Institut für Sozialforschung und Kommunikation GmbH, die Evaluation durchzuführen und einen Forschungsbericht zu erstellen.

Das Forschungsteam untersuchte zum einen in einem rechtswissenschaftlichen Gutachten das BGG und seine Auswirkungen aus juristischer Sicht im Hinblick auf Rechtsprechung und Gesetzgebung. Zum anderen wurden in sozialwissenschaftlichen Befragungen über 3.000 Personen zu ihren Kenntnissen und Einschätzungen zum BGG sowie ihren Erfahrungen zur praktischen Umsetzung des BGG befragt und diese Daten ausgewertet. Um die unterschiedlichen Perspektiven zu berücksichtigen haben sowohl Menschen mit Behinderungen als auch Mitarbeitende in

Behörden, Schwerbehindertenvertretungen und Rechtsschutzvertretungen an den Befragungen teilgenommen.

Handlungsbedarf: Beispiel „Kommunikative Barrierefreiheit“

Die Ergebnisse der Evaluation machen deutlich, dass zwar die gesetzlichen Möglichkeiten zur Herstellung von Barrierefreiheit immer bekannter werden, es jedoch noch großen Handlungsbedarf in der praktischen Umsetzung gibt.

Ein Beispiel stellt die kommunikative Barrierefreiheit dar:

§ 9 BGG enthält das Recht auf kostenfreie Kommunikationshilfen im Verwaltungsverfahren für Menschen mit Hörbehinderungen und Sprachbehinderungen. Auf Wunsch der Berechtigten sollen diese kostenfrei zur Verfügung gestellt werden. Die Evaluation hat jedoch ergeben, dass teilweise die Leistungen wie Gebärdensprachdolmetschende nicht verfügbar sind oder die Verantwortlichkeit für die Bereitstellung in den Behörden nicht bekannt war. Daher muss das Recht auf Kommunikationshilfen in der Verwaltungspraxis noch weiter bekannt gemacht werden, beispielsweise durch Schulungsangebote der Mitarbeitenden.  

Laut § 10 BGG können Bescheide, Verträge und Vordrucke als barrierefreie Dokumente verlangt werden. Gem. § 11 BGG sollen die Behörden bei Bedarf in Einfacher Sprache kommunizieren.

Jedoch sind Behörden bislang nicht verpflichtet, Dokumente gleichzeitig mit der Bekanntgabe in wahrnehmbarer Form (z.B. in Brailleschrift) zugänglich zu machen. Dies führt dazu, dass viele Personen die Dokumente zunächst gar nicht wahrnehmen können und daher den Inhalt nicht kennen. Daher sollten Behörden verpflichtet werden, die Dokumente bereits bei Bekanntgabe barrierefrei zur Verfügung zu stellen, wenn sie bereits wissen, dass die Person einen entsprechenden Bedarf hat. Fehlt es an Dokumenten in einer wahrnehmbaren Form, sollten sich Fristen verlängern.

Bei der Kommunikation in einfacher Sprache wird empfohlen, den Behörden häufig benötige Textbausteine in Leichter Sprache zur Verfügung zu stellen, um die Kommunikation zwischen der betroffenen Person und der Behörde niederschwellig zu ermöglichen.

Diskriminierungserfahrungen in privaten Rechtsverhältnissen

Die kommunikative Barrierefreiheit ist jedoch nur ein Bereich der Evaluation neben vielen anderen, wie die digitale Barrierefreiheit, das Verbandsklagerecht, die Belange von Frauen mit Behinderungen und die Förderung von Partizipation.
Aus der Evaluation geht beispielsweise auch hervor, dass viele Menschen mit Behinderung insbesondere in privaten Rechtsverhältnissen Diskriminierungserfahrungen machen, sei es von Arbeitgebern, Vermietern, Anbietern von Waren und Dienstleistungen oder Gesundheitseinrichtungen. Folglich ist eine Abstimmung des BGG mit den zivilrechtlichen Gesetzen wie dem AGG und dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz dringend notwendig.

Im Forschungsbericht – der als Bundestags Drucksache 20/4440 erschienen ist und auch eine Zusammenfassung der Ergebnisse enthält, können viele weitere Empfehlungen nachgelesen werden.

Persönliches Fazit

Die Arbeit an der Evaluation war für mich persönlich eine wirklich sehr spannende Erfahrung. Insbesondere habe ich dadurch sehr viele interessante Menschen kennenlernen dürfen, die sich mit großem Einsatz im inklusiven Bereich engagieren. Es ermutigt sehr zu wissen, dass wir auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft nicht alleine sind, sondern viele Wegbegleiter*innen haben.

 

Die KSL.NRW unterstützen in allen Fragen, die mit Behinderung bzw. Beeinträchtigung in Verbindung stehen, oder vermitteln die jeweils passenden Ansprechpersonen. Der „Fensterblick Extern" öffnet ein Fenster zu Netzwerkpartner*innen und anderen Inklusionsvorreiter*innen, mit denen die KSL.NRW außerhalb der eigenen Projektstruktur verbunden sind.

Im Kontext: Karoline Riegel

Die Juristin Karoline Riegel schreibt hier über ihre Erkenntnisse zum Forschungsbericht zur Evaluierung des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) im Auftrag des BMAS:  Daran hat sie im Team um Professor Dr. Felix Welti mitgearbeitet. Das interdisziplinär gestaltete Projekt macht deutlich, dass Menschen mit Behinderungen immer noch vielen Barrieren begegnen, obwohl das BGG der Bundesverwaltung schon seit Jahren vorschreibt, gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft sicherzustellen.

Bei vielen Beschäftigten in Behörden sind der Evaluierung zufolge die Verwendung Leichter Sprache wenig bekannt, Dolmetscher*innen für Gebärdensprache oft nicht verfügbar.

Riegel hat fünf Jahre lang für das KSL-NRW-MSi gearbeitet und ist der Selbstbestimmt Leben Bewegung sehr verbunden. Derzeit lehrt sie an der EvH Bochum und promoviert bei Prof. Welti an der Uni Kassel zu Rechten von Frauen und Mädchen mit Behinderung.

 


März 2023