Das Bundessozialgericht (BSG) hat am 28. Januar 2021 erneut eine Entscheidung zum Persönlichen Budget getroffen (Aktenzeichen B 8 SO 9/19 R). In dem Verfahren war das Recht aus der Zeit vor dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) anzuwenden. Die Entscheidung ist trotzdem aktuell und grundsätzlich bedeutsam.
Nachfolgend Anmerkungen zu einigen wesentlichen Inhalten von unserem Rechtsexperten Manuel Salomon.
Wesentliche Inhalte
Nach einigen, für die Praxis von Beratungsstellen wohl weniger interessanten Hinweisen zum Prozessrecht (Randnummern 11 bis 24) finden sich in der Entscheidung z.B. grundsätzliche Ausführungen
- zu Zielvereinbarungen (ab Randnummer 27)
- zum Zweck Persönlicher Budgets (30)
- zur Ermittlung des Eingliederungshilfebedarfs (Randnummer 32)
- zur Befristung Persönlicher Budgets (ab Randnummer 33)
Zu Zielvereinbarungen
Abreden über eine bestimmte Höhe eines Persönlichen Budgets stehen einem Anspruch auf ein höheres Persönliches Budget nicht entgegen. Solche Vereinbarungen „binden die Beteiligten nicht materiell im Hinblick auf den Leistungsbedarf […] und die Höhe des P[ersönlichen] B[udgets]“ (Randnummer 28).
Der Abschluss einer Zielvereinbarung ist „allenfalls formale Voraussetzung für den anschließenden Erlass eines Verwaltungsaktes über das P[ersönliche] B[udget]“ (Randnummer 27).
Zum Zweck eines Persönlichen Budgets
Zweck eines Persönlichen Budgets ist es, „den Berechtigten ein selbstbestimmtes Leben in eigener Verantwortung zu ermöglichen, indem regelmäßige Geldzahlungen zur Verfügung gestellt werden, durch die sie Leistungen selbst organisieren und bezahlen können.“ (Randnummer 30). Das BSG betont hier außerdem den Unterschied zwischen Persönlichem Budget und einem Anspruch auf Kostenerstattung.
Deshalb ist ein Persönliches Budget im Voraus zu berechnen und als Pauschalleistung zu bewilligen – unabhängig von Nachweisen für konkret beschaffte Leistungen. Und unabhängig von den für Sachleistungen geltenden Vorschriften zur Qualitätssicherung (z.B. §§123ff. SGB IX; §§75ff. SGB XII) zu erbringen (vgl. Randnummer 30).
Maßstab zur Bedarfsermittlung
Zum konkreten Bedarf und somit zur Höhe des Persönlichen Budgets im konkreten Falle konnte das BSG nicht abschließend entscheiden. Das Landessozialgericht muss noch weitere Feststellungen treffen (Randnummern 23 und 26).
Allerdings bekräftigt das BSG seinen klaren Vergleichsmaßstab: Erwachsenen Menschen mit Behinderungen sind als soziale Teilhabe an der Gesellschaft die in ihrer jeweiligen Altersgruppe üblichen sozialen Kontakte mit Menschen zu ermöglichen. Maßstab sind erwachsene, nichtbehinderte Menschen der entsprechenden Altersgruppe, die nicht sozialhilfebedürftig sind (vgl. Randnummer 33).
Zu Befristungen
Die in der Praxis fast ausnahmslos anzutreffenden Befristungen Persönlicher Budgets sind laut BSG im Grundsatz nicht zulässig.
Es gibt keine Rechtsvorschrift, die generell befristete Persönliche Budgets zuließe. Vor allem sind Bedarfsermittlungsverfahren und Bewilligung des Persönlichen Budgets strikt zu trennen. Deswegen erlaubt auch die Regelung in §29 Abs. 2 Satz 4 SGB IX keine Befristung; sie bezieht sich nur auf das Bedarfsermittlungsverfahren.
Grundsätzlich sind Eingliederungshilfeleistungen an wesentlich behinderte Menschen unbefristet zu erbringen. Die Sachleistung ist erst dann vollständig erbracht, wenn das Teilhabeziel erreicht ist.
Nur, soweit zugrundeliegende Teilhabeleistungen befristet werden dürfen, dürfen auch Persönliche Budgets befristet werden. Nur auf solche Situationen bezieht sich laut BSG „die Dauer des Bewilligungszeitraumes“ in §29 Abs. 4 Satz 8 SGB IX.
Beispielsweise dürfen Sachleistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben befristet für den Zeitraum einer bestimmten Maßnahme oder Ausbildung erbracht werden. Wenn diese Leistung alternativ nicht als Sachleistung, sondern in Form eines Persönlichen Budgets erbracht wird, darf auch das Persönliche Budget entsprechend befristet werden.
Der Kostenträger darf aber ein Persönliches Budget nicht befristen, um zukünftige Leistungsvoraussetzungen festzustellen. Dafür ist das regelmäßig zu wiederholende Bedarfsermittlungsverfahren vorgesehen. Tatsächliche Veränderungen nach der Bewilligung führen ggf. zu Aufhebungen nach §48 SGB X – unter den dort genannten weiteren Voraussetzungen. Diese Voraussetzungen dürfen nicht durch gesetzlich nicht vorgesehene Befristungen unterlaufen werden.
Das Risiko einer Zahlungslücke darf nicht den Budgetnehmenden aufgebürdet werden, die ihren Mitwirkungspflichten nachkommen, oder deren Bedarf sich nicht verändert hat.
Es liegt stattdessen in der Verantwortung des Kostenträgers, das Bedarfsermittlungsverfahren durchzuführen und ggf. die erforderliche Mitwirkung der Leistungsberechtigten durchzusetzen.
Anmerkungen KSL Arnsberg ...
... zu den sogenannten „Spitzabrechnungen“
Wenn nach dem BSG Persönliche Budgets vorab als Pauschalleistung zu berechnen und zu bewilligen sind, und außerdem konkret beschaffte Leistungen nicht nachgewiesen werden müssen, dann gehören die routinemäßigen sogenannten „Spitzabrechnungen“ der Vergangenheit an.
Nur sollte man darüber nicht zu früh jubeln. Auch ohne Spitzabrechnungen wird zu belegen sein, dass und wie der festgestellte Bedarf gedeckt wurde.
U.E. kann man sich dem Urteil des BSG von zwei Extrempositionen aus nähern. Beide erscheinen wenig praxistauglich und entsprechen wahrscheinlich auch nicht den Plänen des Gesetzgebers. Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen.
Kontrolle durch Kostenträger nur im Bedarfsermittlungsverfahren
Nach einer extremen Lesart muss ein Kostenträger zu Beginn der Leistung einmal den Bedarf feststellen und dann auf dieser Basis die nächsten zirka zwei Jahre bis zum nächsten Bedarfsfeststellungsverfahren monatlich durchzahlen.
Irgendwas kontrollieren darf er nicht. Weil das Persönliche Budget als „Pauschalleistung“ bewilligt wird, kann man das erhaltende Geld gar nicht „falsch“ (d.h. zweckwidrig) verwenden – jedenfalls nicht, solange man nur irgendwelche budgetfähigen Teilhabeleistungen einkauft.
Selbst, wenn man weniger (ggf. viel weniger) Teilhabebedarf hat als zunächst für die Pauschale kalkuliert, wäre nichts zurückzuzahlen, weil die Pauschale nicht an konkret nachzuweisende Leistungen gebunden sein soll. Die allgemeinen Vorschriften zur Mitwirkung in den §§60ff. SGB I sind nicht anzuwenden, weil das Persönlichen Budget eben eine Pauschalleistung ist und §29 SGB IX als spezielle Regelung den allgemeinen Mitwirkungsvorschriften vorgeht (vgl. §37 SGB I; §29 SGB IX).
Die zu erwartende Folge: Der Kostenträger wird versuchen, ganz zu Beginn -solange er noch die Kontrolle hat- die in die Pauschale einzukalkulierenden Leistungen erst recht zu begrenzen, wo immer möglich.
Außerdem widerspricht dieses Verständnis der Funktion einer Zielvereinbarung. Und die Mindestanforderungen an eine Zielvereinbarung werden so auch nicht erfüllt.
Jede Änderung des Teilhabebedarfs ist mitzuteilen
Die andere Extremposition: Die Mindestanforderungen an eine Zielvereinbarung sind gesetzlich festgeschrieben. Unter anderem ist die Deckung des festgestellten Bedarfs nachzuweisen. Ebenso sind Vereinbarungen zur Qualitätssicherung zu treffen.
Ohne solche Vereinbarungen liegt gar keine Zielvereinbarung vor (und nicht nur eine unvollständige, wo man sich nicht in allen Punkten einig geworden wäre). Über Situationen ohne Zielvereinbarung hat das BSG im vorliegenden Urteil nicht entscheiden. Eventuell gibt es dann gar kein Persönliches Budget.
Zwar muss man nicht zwangsläufig eine centgenaue Abrechnung vereinbaren, aber der Bezug zum vorab festgestellten Bedarf bleibt trotz Pauschale doch bestehen.
Ändern sich zwischen zwei Bedarfsfeststellungsverfahren die Teilhabebedarfe, ist dies also als leistungserhebliche Tatsache dem Kostenträger mitzuteilen, weil der festgestellte Bedarf ja dann eben nicht gedeckt wurde (Mitwirkung nach §60 SGB I).
Streng genommen führt das zu kleinteiligem Aufwand, mit dem niemandem gedient ist („Ich habe ja eigentlich jeden Monat einmal meine Großmutter zum Kuchen essen besuchen wollen und dafür Mobilitätsleistungen kalkuliert. Heute ist meine Großmutter aber krank, deswegen fahre ich doch nicht.“ oder „Ich habe gesagt, ich will einmal pro Woche in den Sportverein, aber heute bin ich müde/regnet es mir zu viel, deswegen gehe ich doch nicht hin.“).
In Bagatellfällen wird man nicht mitwirken müssen (§65 Abs. 1 Nr. 1 SGB I). Aber um diese Bagatellgrenze kann man jedes Mal streiten. Wahrscheinlich ist das schlimmer als Spitzabrechnung.
Am Ende könnte es doch wieder darauf hinauslaufen, den Umfang der Mitwirkung in die Zielvereinbarung hineinzuschreiben. Das kann etwas Anderes sein als eine centgenaue Abrechnung. Der Kostenträger wird die Bedarfsdeckung und Qualitätssicherung aber immer noch kontrollieren dürfen (vgl. dazu z.B. im nächsten Abschnitt).
... zur Qualitätssicherung
Das BSG hat entschieden, dass ein Persönliches Budget unabhängig von den Qualitätsmaßstäben für Sachleistungen zu kalkulieren ist. Verbindliche Fachkraftquoten können somit nicht mehr mit dem Hinweis auf die Regeln zur Erbringung von Sachleistungen eingefordert werden - wie es bisher noch oft geschieht.
Die KSL.NRW vertreten von Beginn an die Position, dass die Menschen mit Behinderungen selbst als Expert*innen in eigener Sache selbst entscheiden, ob ihr Teilhabebedarf so gedeckt wird, dass sie zufrieden sind. Dies bildet den entscheidenden Qualitätsmaßstab!
... zu Zielvereinbarungen
Ausdrücklich nicht entschieden hat das BSG, wie zu verfahren ist, wenn gar keine Zielvereinbarung zustande kommt. Praktisch dürfte das Problem entschärft sein. Wenn nämlich auch im Nachhinein noch über den Bedarf und die Budgethöhe gestritten werden kann, dürfte zukünftig regelmäßig (irgend)eine Zielvereinbarung zustande kommen.
In der Broschüre der KSL.NRW zum Persönlichen Budget hatten wir im Kapitel zur Zielvereinbarung noch geraten, eine Zielvereinbarung im Zweifel nicht zu unterschreiben, wenn man mit dem Inhalt nicht vollständig einverstanden ist. Wir hatten geraten, die streitigen Punkte ggf. aus dem Persönlichen Budget auszuklammern und gesondert auf dem klassischen Weg der Sachleistung mit Bescheid, Widerspruch und ggf. Klage zu verfolgen.
Nach der hier besprochenen Entscheidung des BSG ist dieser Ratschlag nicht mehr so eindeutig aufrechtzuerhalten.
Bislang bestand die Gefahr, dass eine Klage auf ein höheres Persönliches Budget als unzulässig abgewiesen wurde – und zwar mit dem Hinweis, man habe doch selbst die Zielvereinbarung unterschrieben, deswegen dürfe man jetzt nicht dagegen klagen.
Mit dieser Entscheidung ermöglicht das BSG Anpassungen einer Zielvereinbarung auch noch nach Unterschrift.
... zu Befristungen
Praktisch werden Persönliche Budgets bisher immer befristet.
Für Teilhabeleistungen, auf die ein Anspruch besteht, hat das BSG dem eine Absage erteilt, wenn nicht die zugrundeliegende Leistung aus anderen Gründen befristet werden darf.
Damit sind Befristungen z.B. bei den vom BSG ausdrücklich genannten Teilhabeleistungen am Arbeitsleben während einer Ausbildung möglich. Weiter sind Befristungen nach dem BSG-Urteil zumindest nicht ausgeschlossen, wenn die Sachleistung eine Ermessensleistung ist (An einigen entscheidenden Stellen betont das BSG, dass es in dem Verfahren um gebundene Entscheidungen zugunsten eines wesentlich behinderten Klägers ging).
Ermessensentscheidungen sind zum Beispiel zu treffen bei Leistungen der Eingliederungshilfe an Menschen mit Behinderungen, die nicht als „wesentlich“ behindert gelten (§99 Abs. 3 SGB IX) bei oder Eingliederungshilfeleistungen an bestimmte Ausländer*innen (vgl. zumindest den Wortlaut des §100 Abs. 1 Satz 1 SGB IX, sofern sich nicht aufgrund von Europa- oder Völkerrecht tatsächlich doch Ansprüche ohne Ermessen ergeben).
Und zum Abschluss …
Und zum Abschluss nochmal, weil es so schön und wichtig ist:
Der Kostenträger darf aber ein Persönliches Budget nicht befristen, um zukünftige Leistungsvoraussetzungen festzustellen. Dafür ist das regelmäßig zu wiederholende Bedarfsermittlungsverfahren vorgesehen. Tatsächliche Veränderungen nach der Bewilligung führen ggf. zu Aufhebungen nach §48 SGB X – unter den dort genannten weiteren Voraussetzungen. Diese Voraussetzungen dürfen nicht durch gesetzlich nicht vorgesehene Befristungen unterlaufen werden.
Das Risiko einer Zahlungslücke darf nicht den Budgetnehmenden aufgebürdet werden, die ihren Mitwirkungspflichten nachkommen, oder deren Bedarf sich nicht verändert hat.
Es liegt stattdessen in der Verantwortung des Kostenträgers, das Bedarfsermittlungsverfahren durchzuführen und ggf. die erforderliche Mitwirkung der Leistungsberechtigten durchzusetzen.
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Manuel Salomon
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