Fensterblick Münster
„Unsere Idee war es, eine Mischung aus Theorie und Praxis zu schaffen, um das Thema Gewaltschutz in der Eingliederungshilfe greifbar und anwendbar zu machen. (...) Für die Veranstaltung haben sich doppelt so viele Personen angemeldet, wie Plätze zur Verfügung standen. Darauf wollen wir natürlich reagieren. Deshalb planen wir bereits, wie ein ähnliches Format im nächsten Jahr gestaltet werden kann."
von Maher Seger / Interview / KSL hinterfragt
Wibke Roth: Maher, du hast am vorvergangenen Mittwoch federführend für das KSL.Münster einen Fachtag zum Gewaltschutz in der Eingliederungshilfe im Martin-Luther-Haus in Steinfurt veranstaltet. Es ging dir unter anderem darum, Mitarbeiter*innen in der Eingliederungshilfe ein besseres Verständnis von Gewalt zu vermitteln. Wie bist du vorgegangen und welche Rückmeldungen gab es?
Maher Seger: Unsere Idee war es, eine Mischung aus Theorie und Praxis zu schaffen, um das Thema Gewaltschutz in der Eingliederungshilfe greifbar und anwendbar zu machen. Der Tag begann mit einem Vortrag, in dem ich die theoretischen Grundlagen zu Gewalt und Gewaltschutz vorgestellt habe. Dabei erläuterte ich die Definition von Gewalt und ihre unterschiedlichen Erscheinungsformen. Unterstützt wurde dies durch aktuelle Zahlen und Daten, um die Relevanz und das Ausmaß des Themas zu verdeutlichen. Besonders stützte ich mich auf die Ergebnisse einer Studie des Instituts für empirische Soziologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen Nürnberg (IfeS), die im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) sowie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) durchgeführt wurde und im Juni 2024 erschienen ist. Die Untersuchung, in der sowohl quantitative als auch qualitative Methoden verwendet wurden, verweist auf eine hohe Gewaltbetroffenheit von Menschen mit Behinderungen (Schröttle et al., 2024).
Da ich auch für die Schnittstelle Flucht/Migration und Behinderung zuständig bin, war es mir zudem wichtig, einen Fokus auf das Thema Diskriminierung als oft übersehene Form von Gewalt zu legen und diese intersektional zu denken. Ein weiterer zentraler Beitrag kam von Timo Krasemann – Männerberater für Menschen mit Behinderungen und Deeskalationstrainer im Familienunterstützenden Dienst Steinfurt. In seiner Einführung thematisierte er die Wahrnehmung und die individuellen Perspektiven von Gewalt. Anhand konkreter Situationen regte er die Teilnehmenden an, kritisch zu reflektieren, ob und in welchem Ausmaß es sich in diesen Fällen um Gewalt handelt. Dieser interaktive Ansatz sorgte für lebhafte Diskussionen und half dabei, die verschiedenen Sichtweisen auf das Thema zu verdeutlichen. Im Anschluss vertiefte er seine Ausführungen, indem er einen Einblick in die Inklusive Männerberatung in Steinfurt gab. In seiner Beratungsstelle tauschen sich Männer mit Behinderungen zu ihren Themen mit ihm aus. Dabei kommen sowohl Täter als auch Betroffene von Gewalt zu ihm.
Darüber hinaus sprach er über Strategien, die Täter von Gewalt entwickeln und über Strukturen, die in der Eingliederungshilfe Gewalt ermöglichen. Daran anknüpfend gab er praktische Hinweise, um den Gewaltschutz in Einrichtungen zu verbessern. Die Rückmeldungen der Teilnehmenden waren durchweg positiv. Insbesondere durch die Offenheit der Diskussionen zu den individuellen Perspektiven entstand eine freundliche und lebendige Atmosphäre. Einige äußerten, dass sie konkrete Ideen mitnehmen konnten, um in ihren Einrichtungen präventive Strukturen aufzubauen oder bestehende zu verbessern.
Wibke Roth: Auch Martina Steinke, Referentin für juristische Fragen beim KSL.Münster, hat einen Vortrag mit konkreten Fallbeispielen gehalten, mit deren Hilfe freiheitsentziehende Maßnahmen in der Eingliederungshilfe vermieden werden können. Könnest du hierzu ein oder zwei Beispiele nennen?
Maher Seger: Der Vortrag meiner Kollegin Martina Steinke war äußerst informativ und beleuchtete zentrale Fragen rund um das Thema freiheitsentziehende Maßnahmen. Sie ging dabei auf folgende Aspekte ein: Was ist eine freiheitsentziehende Maßnahme? Ist eine freiheitsentziehende Maßnahme nach dem Gesetz erlaubt? Welche Möglichkeiten haben Betroffene und Mitwissende, wenn die freiheitsentziehende Maßnahme nicht erlaubt ist und trotzdem durchgeführt wird? Was kann getan werden, um freiheitsentziehende Maßnahmen in der Eingliederungshilfe zu vermeiden? Die Beispiele waren unterschiedlich und haben verschiedene Fälle der Freiheitsentziehung dargestellt. Dazu zählten unter anderem mechanische Maßnahmen, beispielsweise mechanische Maßnahmen in Räumen, wie zum Beispiel Time-Out-Räume. Sie sprach auch über sedierende Medikamente, die zur Ruhigstellung eingesetzt werden können sowie über sonstige Beeinflussungen, wie etwa die Wegnahme von Schuhen und Kleidung. Diese Beispiele eröffneten zahlreiche Fragen und regten eine lebhafte Diskussion an.
Wibke Roth: Herzlichen Dank für die Beantwortung der Fragen. Weißt du schon, ob es eine weitere Veranstaltung zum Thema geben wird?
Maher Seger: Für die Veranstaltung haben sich doppelt so viele Personen angemeldet, wie Plätze zur Verfügung standen. Darauf wollen wir natürlich reagieren. Deshalb planen wir bereits, wie ein ähnliches Format im nächsten Jahr gestaltet werden kann.
Kompetenzzentrum Selbstbestimmt Leben Münster
Neubrückenstraße 12 – 14 (4. Etage)
48143 Münster
Tel.: 0251 - 98 29 16 40
Mail: so-geht-vielfalt(at)ksl-muenster.de
Web: https://ksl-muenster.de
Informationen zur Veranstaltung
Rund 50 Gäste aus der Eingliederungshilfe, darunter Beratungsstellen, Beauftragte für Menschen mit Behinderungen und Mitarbeitende in Wohneinrichtungen und Werkstätten haben teilgenommen. Doppelt so viele waren angemeldet.
Lernziele waren:
- Wichtige Zahlen und Daten zu Gewalt in der Eingliederungshilfe zu vermitteln,
- dass Gewalt ganz unterschiedlich sein kann, über freiheitsentziehende Maßnahmen und Mehrfachdiskriminierung zu informieren,
- in Gruppen an Fallbeispielen zu Gewalt zu arbeiten,
- Möglichkeiten kennenzulernen, wie Gewalt verhindert werden kann
November 2024